Wernigerode im Jahr 1938

  • Ernst Barlach feiert am 2. Januar seinen letzten Geburtstag im heutigen "Cafe Wien". Er wurde 68 Jahre alt. Barlach war bereits 1937 von den Nationalsozialisten gezwungen worden, aus der "Preußischen Akademie" auszutreten. Seine Werke waren im gleichen Jahr aus den deutschen Museen entfernt worden.

Der junge Ernst Barlach
- Wikipedia - Chris 75
Der junge Ernst Barlach - Wikipedia - Chris 75
  • Am 20. Januar findet im Saal des Stadtgartens eine NSDAP-Kundgebung statt, die "wieder das gewohnte Bild einer Massenversammlung hat. Den Hunderten und aber Hunderten Volksgenossen bereitete der Redner des Abends, der Stoßtruppredner Straßweg, eine Feierstunde, die noch lange nachklingen wird."

    Die nationalsozialistische Revolution sei zu einer Herzensangelegenheit der Deutschen geworden. Wörtlich führte der Redner aus: "Unser Weg ist uns aus göttlicher Naturordnung gewiesen und führt uns zu den Gesetzen der Rassenreinheit und des Ausleseprinzips, die wertvoller sind als das Dogma jener, die wenig überhatten für das Gesunde und Starke [...]. So stehen wir am Beginn eines gewaltigen Geistesringens und eines gigantischen Kampfes. Es geht um die Zusammenballung aller völkischen Kraft, um die Stunde unserem Volk zu bereiten, da wir Raum und Brot genug haben für Kind und Kindeskind."

  • Am 10. Februar werden die Einwohner von Wernigerode darüber informiert, dass wie überall im Deutschen Reich Lautsprechersäulen an den Straßen und auf öffentlichen Plätzen als eine "neue Maßnahme zur Volksführung" aufgestellt werden.

    "Das große Geschehen unserer Zeit wird vom ganzen Volk mit Freude, Stolz und leidenschaftlicher Anteilnahme miterlebt. Nie zuvor war die Volksgemeinschaft von einem solchen begeisterten Miterleben beseelt."

    Deshalb ist es nach Auffassung der nationalsozialistischen Propagandisten zu wünschen, dass auch alle "Volksgenossen" an den großen Ereignissen und machtvollen Kundgebungen teilnehmen können.

  • Die Rautalwerke GmbH werden zu einer modernen Leichtmetallgießerei ausgebaut. Während des Zweiten Weltkrieges werden dann Zulieferteile für die Rüstungsindustrie gefertigt, vornehmlich durch Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Diese leben in einem Barackenlager am Ziegenberg.

  • Bei herrlichstem Winterwetter und entsprechenden Schneeverhältnissen findet am 6. März mit dem "Brocken-Abschlußlauf" über 18 Kilometer die letzte ski-sportliche Großveranstaltung des Harzes der Saison 1937/38 mit einer Rekordbeteiligung von über 300 Sportlern statt.

    Neben allen einheimischen Gau-Vereinen hatten auswärtige Gau-Vereine die günstige Gelegenheit ergriffen und zahlreiche Teilnehmer entsandt.

  • Am Sonntag, dem 13. März gibt es im "Stadtgarten" wieder, diesmal von der Wehrmacht gekochtes, "Eintopfessen". Der "Eintopfsonntag" fällt dieses Jahr mit dem "Heldengedenktag" zusammen.

    "Heldengedenktag aber ist Mahnung an den Opfergang von zwei Millionen deutscher Väter und Söhne für des Vaterlandes Ehre und Freiheit."

  • Am 9. April begeht Wernigerode den "Tag des großdeutschen Reiches". Reichspropagandaminister Dr. Göbbels hatte dazu aufgerufen, diesen Tag überall im "Großdeutschen Reich" zu begehen und mit einem "Gemeinschaftsempfang der Führerrede" zu verbinden.

    In Wernigerode werden unter verantwortlicher politischer Führung von Sturmführer Koppe, Scharführer Bombös und Obersturmführer Hahn drei Marschsäulen gebildet, die auf festgelegten Marschwegen in vorgesehenen Sälen den "Gemeinschaftsempfang der Rede des Führers Adolf Hitler" ermöglichen.

    Zum Abschluss vereinen sich abertausende Wernigeröder Mitglieder aller nationalsozialistischen Gliederungen, Verbände und Vereine zu einem Fackelzug.

  • Am 10. April sind die Wernigeröder und andere sich hier aufhaltende Reichsbürger zu einer "Volksabstimmung und Wahl des Großdeutschen Reichstages" aufgerufen. Es geht um die Zustimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Großdeutschen Reich und ein Bekenntnis zur "Friedenspolitik des Führers". Seit vielen Tagen rufen in der Presse "Betriebsführer und Gefolgschaften dazu auf, dem Führer freudig ihr Ja zu geben".

    Die Stadt ist in 13 Stimmbezirke eingeteilt.

    Bereits um 7:00 Uhr werden die Bewohner durch Spielmannszüge der SA und Hitlerjugend geweckt. Die Blockwarte der NSDAP sorgen mit "Wahlhelfern" dafür, dass die Wahlberechtigten frühzeitig ihre Stimme abgeben. "Sämtliche Gliederungen der Partei stehen für den Wahldienst zur Verfügung".

Aufruf der Betriebsführung und Gefolgschaft der Leichtmetallwerke Rautenbach, dem Führer das "Ja" zu geben.
© Wolfgang Grothe
Aufruf der Betriebsführung und Gefolgschaft der Leichtmetallwerke Rautenbach, dem Führer das "Ja" zu geben. © Wolfgang Grothe
  • Im Stadtgartensaal findet ein Festakt zur 400-Jahrfeier der Fürst-Otto-Schule statt.

    Die Schule war am 29.03.1538 aus kirchlichem Besitz in den Besitz der Stadt übergegangen.

  • Am 11. April werden die Endergebnisse der Volksabstimmung vom 10. April bekannt gegeben. Bei einer Wahlbeteiligung von 99,8 Prozent in Wernigerode gaben 17.094 Wähler dem "Führer ihr Ja!". Das sind 99,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. 328 Wähler stimmten mit Nein und 41 Stimmen waren ungültig.

  • Auf dem Brocken wird ein steinerner Neubau der Wetterwarte fertig gestellt.
Brocken
- Stadtarchiv Wernigerode
Brocken - Stadtarchiv Wernigerode
  • Der Magdeburger Unternehmer Rudolf Kindermann informiert "die verehrliche Einwohnerschaft von Wernigerode", dass am 14. April die "Storchmühle" wieder eröffnet wird.

    "Das rühmlichst bekannte Orchester Eddy Dittke ist für die Storchmühle fest verpflichtet."

Storchmühle
- Stadtarchiv Wernigerode
Storchmühle - Stadtarchiv Wernigerode
  • Am 15. Juni findet auf dem Anger der "Jugendluftschutztag der HJ" statt. "Scharführer" Offszanka erläutert in einer Ansprache Sinn und Zweck des Einsatzes der Jugend für den Luftschutzdienst.

    "Luftschutzdienst ist eine Angelegenheit des gesamten Volkes, und das heißt, dass dabei auch der Jugend beiderlei Geschlechts eine wichtige Aufgabe zugewiesen ist."

    Der aus Schülern der Mittelschule zusammengestellte Luftschutzzug der HJ zeigte dann Übungen mit Gasmasken.

  • Der Tourismus ist für Wernigerode noch der wichtigste Wirtschaftszweig. Pro Jahr gibt es 500 000 Übernachtungen. Bei angenommenen 5 Reichsmark Tagesverbrauch pro Kopf ergibt das einen Umsatz für die Stadt von 2,5 Millionen Reichsmark pro Jahr. Zum Vergleich: Rautenbach zahlt pro Jahr etwa 12 Millionen Reichsmark Löhne und Gehälter.

Gasthof zur Tanne
- Stadtarchiv Wernigerode PK/IV/235
Gasthof zur Tanne - Stadtarchiv Wernigerode PK/IV/235
  • Anfang der 30iger Jahre gibt es durch die Deutsche Reichspost erste erfolgreiche Sendeversuche zur drahtlosen Bildübertragung. Der Brocken wird auf Grund seiner exponierten Lage als Senderstandort ausgewählt.
    Mitte des Jahrzehnts wird ein Versuchsbetrieb mit einem transportablen Fernsehsender gefahren, der erfolgreich ist, so dass ein Jahr später mit dem Bau des ersten Fernsehturms der Welt auf dem Brocken begonnen wird. Dieser ist 1938 fertig gestellt und erreicht eine Höhe von 95 Metern. Ein Sendebetrieb als regulärer Fernsehsender erfolgt allerdings durch den Ausbruch des 2. Weltkrieges nie.

Sendeturm auf dem Brocken 1938
- Frank Wiesner
Sendeturm auf dem Brocken 1938 - Frank Wiesner
  • Finanzielle Schwierigkeiten zwingen die Eigentümerin der Villa "An den wüsten Teichen", Emmy Honig, das Grundstück an den aus Solingen stammenden Großindustriellen Rudolf Artur Rautenbach zu verkaufen, der das Anwesen im Wesentlichen zu Repräsentationszwecken nutzt.

  • Der Gastwirt Walter Buchmann eröffnet am 3. August im Haus Malzmühle 1b wieder die Gaststätte "Eselskrug". In diesem Haus gab es bereits von 1799 bis 1838 eine Gaststätte dieses Namens, die nach hundert Jahren den Wernigerödern immer noch ein Begriff ist.

Eselskrug 1956
- Gerhard Bombös
Eselskrug 1956 - Gerhard Bombös
  • Wenn die Mitglieder der Hitlerjugend das 18. Lebensjahr erreicht haben, verlassen sie überall im "Dritten Reich" deren Reihen und treten in die Männerbünde der NSDAP, in die SA oder in die SS oder andere nationalsozialistische Organisationen ein. Am 11. Oktober werden alle 18jährigen Hitlerjungen aus Wernigerode eingegliedert. Die "Überweisung" erfolgt wie üblich in "einer weihevollen Feierstunde" in Anwesenheit der in Frage kommenden Gliederungen durch den "Hoheitsträger der Partei". Mit dem Vorbeimarsch in der Burgstraße endet die Feier.

  • Vom Oberverwaltungsgericht bei der Regierung in Magdeburg wird am 4. August der Antrag der Papierfabrik Marschhausen in Wernigerode-Hasserode auf Wiederaufnahme der Produktion von Strohpappe abgelehnt.

    Dem Rechtsstreit waren langjährige Diskussionen in der Öffentlichkeit vorausgegangen.

    Begründet wird jetzt die Ablehnung mit zu erwartenden negativen Auswirkungen auf die Wasserqualität des Stillen Wassers durch Abwässer sowie auf die Wohnqualität in einem Villenvorort.

  • Die jüdische Firma "Sally Lewy" in der Breiten Straße 44 in Wernigerode wird "arisiert".

    Für die Wernigeröder Zeitung beginnt am 20. September mit der "Arisierung der jüdischen Geschäfte [...] für die Wirtschaftsgeschichte unserer Stadt ein neuer Abschnitt".

    Wernigeröder Zeitung und Intelligenzblatt - "Nun endlich Schluß mit jüdischer Geschäftemacherei in unserer Stadt" 14.09.1938
Breite Straße 44
© Wolfgang Grothe
Breite Straße 44 © Wolfgang Grothe
  • Am 21. August kommt die "Alte Garde des Führers" mit der Brockenbahn auf dem Westerntor-Bahnhof an. Von dort geht es durch die Westernstraße, am Markt vorbei durch die Breite Straße weiter nach Halberstadt.

    Bürgermeister Fresenius und der Ortsgruppenleiter der NSDAP Erichsen hatten die Bevölkerung aufgerufen, die betreffenden Straßen und Plätze zu beflaggen.

    Die Spalierbildung aller Einheiten und die Blumenübergabe an die "alten Kämpfer" durch die Mitglieder des BDM und JM sowie der NS-Frauenschaft per Dienstbefehl ist straff organisiert.

  • Auch in Wernigerode werden jüdische Mitbürger, sofern sie nicht rechtzeitig emigriert waren, wegen ihrer Herkunft und ihres Glaubens verfolgt, vertrieben oder verhaftet, in Lagern gequält und ermordet.

    Die Wernigeröder Polizei meldet einen Tag nach der so genannten Kristallnacht am 9. November, dass "alle reichsdeutschen Juden" verhaftet worden seien, darunter Pfarrer Benfey. Er war - weil jüdischer Abstammung - seines Amtes enthoben worden. Zu den jüdischen Geschäften gehörte auch J. Reichenbach in der Breiten Straße 7.

    Niemand der jüdischen Mitbürger in der Stadt ging freiwillig, niemand kehrte nach 1945 nach Wernigerode zurück.

Geschäft des jüdischen Kaufmanns Reichenbach in der Breiten Straße 7
- Dieter Oemler
Geschäft des jüdischen Kaufmanns Reichenbach in der Breiten Straße 7 - Dieter Oemler
  • Am 24. Oktober findet im "Stadtgarten" von Wernigerode eine Mitgliederversammlung der NSDAP mit der "Verpflichtung von 550 neuen Parteigenossen auf den Führer und seine Bewegung" statt. Ortsgruppenleiter Erichsen richtet an die Versammelten eine kurze Ansprache, in der er die "Bedeutung einer solchen Verpflichtung unterstreicht und besonders die Erkenntnis betont: Nichts ist ohne die Partei!

    Jeder einzelne ist der Träger des Glaubens und des Willens des Führers und als solcher verpflichtet zu tatkräftigem Einsatz und Disziplin".

  • Am 21. Dezember finden auch in Wernigerode erstmals "Sonnenwendfeiern", auf dem Marktplatz mit der SA, anderen nationalsozialistischen Organisationen und "politischen Führern" und im Kastanienwäldchen mit der HJ und dem "Jungvolk", statt.