Wernigerode im Jahr 1989
Im Wernigeröder Kreiskulturhaus findet am 28. Oktober eine „Liedersession“ mit Künstlern aus der Harzstadt statt.
Neben den Liedermachern Wolf-Dieter Skibba aus Blankenburg, "Hardam & Spormann", der „Stepphuhn AG“, dem Interpreten Friedmar Quast und der Folkband „Bergfolk“ haben die die Veranstaltung organisierenden Harald Kruft und Rainer Hochmuth auch die zu jenem Zeitpunkt verbotene Rockband „Flexibel“ (später „AufBruch“) eingeladen.
Die „Volksstimme“ schrieb, dass damit das Auftrittsverbot der Band nun kein Thema mehr sein dürfte.
Am 18. September wollen Studenten des "Katechetischen Seminars", wie Cristina Schulz und ursprünglich auch der dann allerdings im August über Ungarn nach Westdeutschland geflohene Stefan Hilchenbach sowie Aktivisten des Wernigeröder "Friedenskreises", wie Ludwig Hoffmann, in der "Kontaktlinse", dem "Diensthaus" des Jugendpfarrers Karl-Heinz Nickschick, einen Ableger der Berliner "Umweltbibliothek" gründen. Das "Kulturprogramm" soll der Wernigeröder Liedermacher Ralf Mattern, dessen Band "Flexibel" mit einem Auftrittsverbot belegt ist, gestalten.
Durch die damalige Dynamik der gesellschaftlichen Krise in der DDR steht jetzt jedoch die Gründung des "Neuen Forum" an. Etwa eineinhalb Dutzend Leute versammeln sich im Oberpfarrkirchhof 6. Der Aufruf wird von 16 der Anwesenden unterzeichnet, wie sich Pfarrer Peter Lehmann erinnert.
In Neustadt/Weinstraße empfängt Bundeskanzler Helmut Kohl gemeinsam mit Oberbürgermeister Dieter Ohnesorge am 26. Februar eine Delegation der Stadt Wernigerode unter Leitung der Ersten Stellvertreterin des Bürgermeisters Rita Ahrens zur Vorbereitung einer weiteren deutsch-deutschen Städtepartnerschaft.
Das Hotel "Gothisches Haus" soll zu einem modernen Vier - Sterne - Hotel für ausländische Gäste ("Devisenhotel") umgebaut werden. Die Absicht führt zu starken Protesten unter der Bevölkerung (für DDR - Bürger ohne "Westgeld" wäre das Hotel "tabu") und wird im Herbst aufgegeben.
Beim Umbau werden die angrenzenden Gebäude einbezogen, was schwere Eingriffe in die historische Bausubstanz mit sich bringt. Nur das eigentliche Hotelgebäude bleibt erhalten, die angrenzenden Häuser werden mit abgerissen und mit vorgeblendetem Fachwerk völlig neu errichtet.
Am 31. März richtet Bürgermeister Martin Kilian ein Schreiben an den Oberbürgermeister von Neustadt an der Weinstraße mit Übersendung eines Textentwurfs zur "Vereinbarung über die Städtepartnerschaft zwischen der Stadt Wernigerode in der Deutschen Demokratischen Republik und der Stadt Neustadt an der Weinstraße in der Bundesrepublik Deutschland".
Am 7. Mai finden in der DDR, so auch im Kreis und in der Stadt Wernigerode Kommunalwahlen statt. Zur Wahl steht ein "gemeinsamer Vorschlag" der "Nationalen Front". Die Wahlbeteiligung im Kreis Wernigerode liegt bei 99,22%. Für den "gemeinsamen Vorschlag" stimmen 99,98 % der Wernigeröder. Die beiden Tageszeitungen "Volksstimme" und "LDZ" bezeichnen das Wahlergebnis als "Votum für die Politik des Friedens und des Sozialismus im 40. Jahr des Bestehens der DDR".
Die Bürger konnten bei persönlichen Gründen schon einige Wochen vor der Wahl im "Sonderwahllokal" im Rathaus ihre Stimme abgeben. Bei dieser Wahl waren es über 40% der Wähler.
In einer "Parteiaktivtagung" mit SED-Parteisekretären verlangt der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, künftig dafür zu sorgen, dass "der eigentliche Wahltag" der gesellschaftliche Höhepunkt werden muss.
Am 12. Mai gehen entsprechend eines Regierungsabkommens zwischen der DDR und der Volksrepublik Vietnam 189 vietnamesische Arbeitskräfte ein Arbeitsrechtsverhältnis mit dem VEB Elektromotorenwerk Wernigerode ein. Dafür wurde mit staatlicher Unterstützung in Rekordzeit eine Wohnunterkunft im Dornbergsweg geschaffen.
Am 7. und 8. Oktober kommt es zu "Zusammenrottungen" von Jugendlichen (Protokoll der Sicherheitskräfte). Es werden Losungen gerufen, wie: "Wir sind das Volk" oder "Wir sind nicht die Fans von Egon Krenz". Von den "Sicherheitskräften" wird mit Gummiknüppeln die Demonstration aufgelöst und Verletzte in Handschellen zum Krankenhaus gebracht.
Am Abend des 11. Oktober versammeln sich ca. 800 Personen vor dem Seniorenheim "Harzfriede", um das "Neue Forum" für die Stadt zu gründen. Da der Saal nicht ausreicht, ziehen die Teilnehmer in einer stillen Demonstration zur Johanniskirche. Obwohl das "Neue Forum" noch verboten ist, werden Arbeitsgruppen gebildet und ein vorläufiger Sprecherrat gegründet.
Volksstimme - 11.10.2014 S. 13
Politische "Wende" auch in Wernigerode. Am 22. Oktober findet eine Sitzung des "Demokratischen Blocks" statt. Im Kommunique der Beratung heißt es: "Im Mittelpunkt dieser Beratungen standen aktuelle Fragen und Probleme in Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und der sich daraus ergebenden Aufgaben für den Kreis Wernigerode. In der anschließenden Tagung des Demokratischen Blocks begrüßten die Vorsitzenden und Kreissekretäre der befreundeten Parteien und Massenorganisationen die von der 9. ZK - Tagung gegebene klare Orientierung und hoben die Bereitschaft ihrer Mitglieder hervor, die von der Partei der Arbeiterklasse eingeleitete Wende zur attraktiveren Gestaltung des Sozialismus in der DDR verantwortungsvoll mit zu tragen. Alle Teilnehmer bekannten sich zur Weiterführung des offenen Dialogs über alle Fragen." "Der Demokratische Block wendet sich an alle Bürger, mit Besonnenheit und Verantwortungsbewußtsein die jetzt anstehenden Fragen zu klären und an politischen Lösungen mitzuwirken." "Am Dienstag fand in den Abendstunden in Wernigerode eine Demonstration von Bürgern zum Marktplatz statt. Sie verlief ruhig und ohne Ausschreitungen. Die Demonstranten ließen auf der rekonstruierten Rathaustreppe zahlreiche Kerzen abbrennen..." In einer "streng vertraulichen Information" des Ministeriums für Staatssicherheit ist von 800 Personen in Wernigerode die Rede, die an der Demonstration teil nahmen.
Volksstimme - 26.10.1989
Schätzungsweise 5000 Wernigeröder beteiligen sich am 4. November an einer Demonstration, die als Reaktion auf die angekündigten Veranstaltungen in Berlin und Magdeburg spontan entstanden war. Der "Buschfunk" hatte gut funktioniert. Um 15 Uhr kommen auf dem Marktplatz und den angrenzenden Straßen die Demonstranten zusammen. Transparente, wie "Gleichheit, Demokratie, Freiheit", "Neues Forum zulassen", "Freie Wahlen" oder "Wir fordern Reisefreiheit" sind im Zug zu sehen. Nach anderthalb Stunden löst sich der Zug, der am Gebäude der SED-Kreisleitung, dem Rat des Kreises und der Kreisdienststelle der Staatssicherheit vorbeiführt, auf. Vor dem Gebäude der Kreisdienststelle der Staatssicherheit in der Goethestraße gibt es Sprechchöre: "Stasi in die Produktion!" Die Polizei tritt nicht in Erscheinung.
Das Gebäude am heutigen Helltauer Platz 1 wird wieder seiner ursprünglichen Berufung zugeführt. Es dient wieder als Treffpunkt der Freimaurer.
Hans Deistel et al. (Stadtbaurat) "Wernigerode Stadt und Land - Deutschlands Städtebau - Stadt Wernigerode und Kreis Grafschaft Wernigerode mit seinen Kurorten Ilsenburg und Schierke" 1926 Dari-Verlag Berlin - Freimaurerloge "Zum starken Licht am Brocken" & "Zur Eiche am Scharfenstein"
Am 3. Dezember erzwingen friedliche Demonstranten die Öffnung des Brockens. Die diensthabenden Offiziere der Grenztruppen und des Staatssicherheitsdienstes haben keine Weisung ihrer übergeordneten Dienststellen und entscheiden eigenverantwortlich über die Öffnung. Die Einheit der Roten Armee (Funkeinheit der militärischen Aufklärung) hatte den Befehl, sich herauszuhalten.