Wernigerode im Jahr 1945
Am 4. Januar liefert man Friedrich Kuring (SPD) in das Zuchthaus Brandenburg ein. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kümmert sich Kuring gemeinsam mit Karl Jonas (1889-1969), Friedrich Müller (1888-1957, beide SPD) und August Willecke (1887-1946, KPD) um den Neuaufbau der Gewerkschaften in Wernigerode.
Hermann Paul Reichardt (SPD) lehnt das Ansinnen der Besatzer ab, sein Amt als Bürgermeister wieder aufzunehmen. Nach eigener Ansicht verspricht er sich davon "keinen Segen". Außerdem will er sich eigenem Bekunden nach nicht den Besatzungsmächten fügen. Die sowjetische Kommandantur befiehlt ihm dann jedoch, die Geschäfte des Landrates für den Kreis Wernigerode ab September aufzunehmen. 1947 wurde Reichardt krank und arbeitsunfähig.
Am 30. Januar jährt sich zum 12. Male der Tag der Machtübernahme der NSDAP, der in einer "besinnlichen Feierstunde" der Partei im Wernigeröder "Stadtgarten" begangen wird. In einer Ansprache betont der "Reichshauptamtsleiter Pg Dr. Steg": "Harte Monate des Aufbaus und des Kampfes sind seitdem vergangen. Neiderfüllt blicken unsere Feinde auf die stolzen Errungenschaften Adolf Hitlers und seiner Getreuen. Missgunst und Hass waren die Folgen, die zu dem gewaltigen Völkerringen führten, das besonders in unsren Tagen von einem unvorstellbaren Heroismus des deutschen Volkes getragen wird".
Wernigeröder Zeitung - 31. Januar
Am 25. März findet im "vollbesetzten Stadtgarten eine würdige Veranstaltung statt", in der Kreisschulungsleiter Hildebrand anlässlich des Schulabschlusses der Grundschüler eine Rede hält. "Mit der Entlassung aus der Schule beginnt nun ein völlig neuer Lebensabschnitt, der unsere 14 und 15 jährigen Jungen und Mädeln vor gänzlich neue Aufgaben stellt".
Wernigeröder Zeitung - 26. März
Am 3. April erscheint in der "Wernigeröder Zeitung - Amtliches Organ der NSDAP und der Behörden" ein Artikel mit der Überschrift "Kampf bis zum letzten Atemzug". Der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP gibt dazu die folgende Anordnung aus: "Nationalsozialisten, Parteigenossen! Nach dem Zusammenbruch von 1918 verschrieben wir uns mit Leib und Leben dem Kampfe um die Daseinsberechtigung unseres Volkes. Jetzt ist die höchste Stunde der Bewährung gekommen: Die Gefahr erneuter Versklavung, vor der unser Volk steht, erfordert unseren letzten und höchsten Einsatz! Von jetzt an gilt: Der Kampf gegen den ins Reich eingedrungenen Gegner ist überall mit aller Unnachgiebigkeit und Unerbittlichkeit zu führen. Gauleiter und Kreisleiter, sonstige Politische Leiter und Gliederungsführer in ihrem Gau und Kreis, siegen oder fallen. Ein Hundsfott, wer seinen vom Feind angegriffenen Gau ohne des ausdrücklichen Befehl des Führers verläßt, wer nicht bis zum letzten Atemzuge kämpft, er wird als Fahnenflüchtiger geächtet und behandelt. Reißt hoch die Herzen und überwindet alle Schwächen! Jetzt gilt nur noch eine Parole: Siegen oder fallen. Es lebe Deutschland! Es lebe Adolf Hitler!"
Acht Tage später endet für unsere Stadt mit der bedingungslosen Kapitulation des "Tausendjährigen Reiches" der blutigste und verbrecherischste aller Kriege.
In den letzten Kriegstagen passieren Häftlingskolonnen aus den Konzentrationslagern auf den Todesmärschen unsere Stadt. Der französische Schriftsteller und Resistancekämpfer Robert Antelme, beschäftigt sich später in seinen Erinnerungen mit der Gleichgültigkeit der Wernigeröder: "Als man gestern die Kameraden tötete, bummelten diese Leute ebenfalls über die Bürgersteige. Sie wissen, was sie tun, sie wissen, was man mit uns tut." 13 bis 14 Jahre alte Kinder beschimpfen die Häftlinge als Banditen und Verbrecher, einige ältere Männer gesellen sich zu den Jugendlichen.
Der Standortführer der Hitlerjugend befiehlt allen Hitlerjungen und Pimpfen des Standortes Wernigerode am 7. April um 7:00 Uhr auf dem "Gymnasialturnhof" zum Dienst anzutreten. "Mitzubringen sind Schaufeln und Spitzhacken. Erscheinen aller ist Pflicht".
Wernigeröder Zeitung - 6. April
Im Zweiten Weltkrieges sind in der Stadt Wernigerode insgesamt 7727 ausländische Zwangsarbeiter bei ca. 300 Wernigröder Arbeitgebern (Betriebe, Einrichtungen, Handwerker und Privathaushalte) beschäftigt.
Die größten Kontingente kamen aus Belgien (2388), Frankreich (1959), der Sowjetunion (1838), den Niederlanden (623), Polen (548) und der Tschechoslowakei (308).
In den letzten Kriegstagen wird auf Befehl des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht im Harz eine neue 11. Armee aufgestellt. Die Führung übernimmt am 8. April General Walther Lucht, der den nur eine Woche kommandierenden General Albert Kesselring ablöst.
In seinen Lebenserinnerungen von 1953 spricht Kesselring von einer "Festung Harz".
Spätere historische Forschungen widerlegen die Existenz einer solchen "Festung Harz" und bewerten diese als einen "Mythos".
Am 11. April erscheint in Wernigerode die letzte Ausgabe der Tageszeitung "Wernigeröder Zeitung - Nationalzeitung für den Harz - Amtliches Organ der NSDAP und der Behörden" (Jahrgang 150, Nr. 84)
Es wird darin behauptet, dass in den "feindbesetzten Gebieten...Feindschaft und Widerstand gegen Eindringlinge" durch die deutsche Bevölkerung herrscht. "Kein alliierter Soldat ist seines Lebens sicher".
Die Wernigeröder Zeitung - Nationalzeitung für den Harz - Amtliches Organ der NSDAP und der Behörden informiert am 11. April, "dass auf Grund der Bestimmungen über die Jugenddienstpflicht auch im Jahre 1945 alle 10jährigen Jungen und Mädel im Dienst der Hitlerjugend zu erfassen und anzumelden sind".
Wernigeröder Zeitung - 11. April
In eigener Lebensgefahr gehen am Mittag des 11. April der Lazarettchefarzt Dr. Kolbe, der Chirurg des Lazaretts Dr. Friedrich und der Lazarettpfarrer Konrad Schnabel den bei Darlingerode anrückenden amerikanischen Truppen entgegen, um jede Beschießung der Stadt zu vermeiden. Trotz dieser erfolgreichen Verbindungsaufnahme kommt es zu Schießereien zwischen Krankenhaus und Westerntor, verursacht durch verblendete und leidenschaftlich gebärdende Hitlerjungen. Die Schießerei kostet 20 Menschen das Leben.
Oberst Gustav Petri, Kommandant für das rückwärtige Armeegebiet der 11. Armee im Harz, wird am 12. April vermutlich bei Drei Annen-Hohne von Mitgliedern des Armeeoberkommandos (darunter auch SS) erschossen, nachdem er den Befehl verweigert, Wernigerode in eine Kampfzone einzubeziehen und gegen die anrückenden amerikanischen Einheiten zu verteidigen. Die Stadt bleibt weitgehend verschont und Tausende Menschenleben gerettet.
Das Lager am Veckenstedter Weg, in dem nach der Auflösung des KZ-Außenkommandos seit Januar fluchtverdächtige und der Sabotage verdächtige oder überführte Zwangsarbeiter aus Westeuropa unter KZ-ähnlichen Bedingungen eingesperrt waren, wird am 11. April von Soldaten des 19. Korps der 19. US-Infanterie-Division befreit.
Am 15. April erscheinen mehrere hundert freigelassene Häftlinge aus dem KZ Langenstein in Wernigerode und fordern Einkleidung und die Möglichkeit, in ihre Heimat transportiert zu werden. Ein anderer Teil verlangt zunächst erst einmal eine "Schonzeit". Da das Hotel "Lindenberg", bisher als Lazarett genutzt, zur Zeit leer steht, werden ca. 120 Personen dort eingewiesen und versorgt. Die Einkleidung erfolgt durch Spenden nach einem Aufruf an die Bevölkerung.
Am 18. April läßt der amerikanische Stadtkommandant nach ehemaligen Stadtverordneten suchen, die nicht Mitglied der NSDAP waren. Die gefundene Gruppe aus Kommunisten, Bürgerlichen und Sozialdemokraten schlägt zunächst den früheren 2. Bürgermeister, Herrmann Reichard (SPD) vor. Der amerikanische Stadtkommandant bestimmt dann aber Max Otto (SPD) zum 1. Bürgermeister. Am 20. April bestätigt der Kommandant den neuen Magistrat, dem weiter angehören: Otto Deutsch (KPD), 2. Bürgermeister, Stadtverordnetenvorsteher Otto Büchting, Rechtsanwalt Momsen und Plander (Bürgerliche), Richard Bartels, Paul Menger, Walter Niemann (alle SPD) und August Willecke (KPD).
Am 19. April erreicht das 29. Infanterieregiment der USA Schierke und besetzt den Brocken, nachdem am gleichen Tag in der 6. Abendstunde etwa 20 englische und amerikanische Bomber denselben zerstört hatten. Die Kampfhandlungen werden beendet. Ein Vergeltungsschlag der Amerikaner wird durch den Ortskommandanten Drube und den Pfarrer Ritscher verhindert.
Bei der Verteidigung von Schierke fallen 50 deutsche Soldaten.
Die amerikanischen Besatzungstruppen übernehmen als erste nach der Kapitulation die Macht. In den sechs Wochen ihrer Anwesenheit wechseln sie siebenmal den Kommandanten, dessen erste Amtshandlung jeweils die Einbestellung des Bürgermeisters ist verbunden mit ständig neuen Wünschen und Forderungen, wie Ablieferung von Fotoapparaten, Musikinstrumenten, Tennisschläger und -bälle u.a..
Am 9. Juni erscheint als erste Tageszeitung nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Sturz des Naziregimes das amtliche Nachrichtenblatt der britischen Militärregierung, "Zwischen Harz und Huy". Die britische Militärregierung hat "ihr Erscheinen in großzügiger Weise genehmigt und kontrolliert ihren Inhalt".
Das amtliche Nachrichtenblatt für den Kreis Wernigerode soll nach dem Willen der britischen Militärregierung gleichzeitig Sprachorgan der antifaschistischen Einheitsfront sein und der politischen und kulturellen Aufklärungsarbeit dienen. Aufbauwillige Kräfte unserer Heimat sind aufgerufen, an der Gestaltung mitzuwirken.
Zwischen Harz und Huy - Amtliches Nachrichtenblatt - Nr. 1 vom 9. Juni 1945
Am 17. Juni fordert der Schulleiter der Hasseröder Volksschule im Amtlichen Nachrichtenblatt der britischen Militärregierung die Schüler auf, am 18. Juni um 8:30 Uhr auf dem Schulhof Pfälzergasse 9 zur "Neueinteilung für Hilfsarbeiten" zu erscheinen. "Wer ohne vorherige und ausreichende Entschuldigung bei den Klassenlehrern nicht erscheint, wird der Ortspolizeibehörde zur Bestrafung gemeldet."
Auf Anordnung der britischen Militärregierung (20. Juni) hat die Stadt Wernigerode für 200 Frauen, 100 Männer und 60 Kinder Bekleidung zu liefern. Auf Grund dieser Anforderung verpflichtet der Bürgermeister alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP (die Mitgliederlisten liegen vor) diese Sachen sofort und freiwillig bei der Polizeiwache abzuliefern. Bei Nichtbeachtung wird mit drastischen Sanktionen gedroht.
Im August werden mit dem Befehl Nr. 23 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) auch die Lazarette in Wernigerode aufgelöst. Die beiden Häuser des ehemaligen Hotels "Eichberg" werden weiter als Krankenhaus genutzt, jetzt für den zivilen Bereich. In der Villa gibt es eine Station für Hautkrankheiten unter Leitung von Dr. Graf.
Am 6. September konstituiert sich die Bodenreformkommission unter Vorsitz des stellvertretenden Landrates Falkenbach (KPD). Im Kreis Wernigerode werden in der Bodenreform 43 Güter und Betriebe über 100 Hektar sowie Betriebe von Kriegsverbrechern und Naziaktivisten mit einer Gesamtfläche von 16 116 Hektar Ackerland, Wald und Wiesen aufgeteilt.
Im Kreis Wernigerode erhalten 975 Landarbeiter und landlose Bauern, 451 landarme Bauern, 293 Kleinpächter, 173 Umsiedler und 2127 Arbeiter und Angestellte Bodenreformland.
Im Ergebnis der Bodenreform werden auf der Grundlage des Befehls Nr. 209 der SMAD im Kreis Wernigerode 134 Neubauernstellen geschaffen.
Laut Befehl der sowjetischen Militäradministration (SMAD) sollen die Schulen ab 1. Oktober wieder für den Unterricht geöffnet werden. Wegen einer Typhusepidemie, die sich auf ganz Deutschland ausgebreitet hatte, müssen die Schule am 10. Oktober wieder geschlossen werden. Am 13. November werden sie erneut geöffnet.
Die Einwohner erhalten seit Kriegsende Lebensmittelkarten. Wöchentlich werden von der Stadtverwaltung die Mengen für die angegebenen Kartenabschnitte mitgeteilt. Zum Beispiel erhält ein Normalverbraucher über 18 Jahre in der Zeit vom 15. bis 31. Oktober: 500g Brot, 50g Fleisch, 5g Fett, 125g Zucker, 200g Kaffeeersatz, 31,25g Käse und 500g Gemüse.
Stadtarchiv Wernigerode - WR III 6/2
Am 4. Oktober ordnet der Bürgermeister eine "Allgemeine Typhusschutzimpfung der gesamten Bevölkerung, einschließlich aller Umquartierten und Flüchtlinge der Stadt Wernigerode" an. Die Notwendigkeit wird begründet. Jeder muss sich dieser Pflichtimpfung unterziehen, mit Ausnahme der Kinder unter 4 Jahre und Personen, die zur Zeit an einer schweren Erkrankung leiden. Wer sich der Impfung entzieht, muss mit polizeilichen Strafmaßnahmen rechnen. Schulkinder werden geschlossen in ihrer Schule geimpft.
Stadtarchiv Wernigerode - WR III 6/3
Der Bürgermeister gibt am 15. Dezember bekannt, dass in der Zeit vom 19. bis 22. des Monats eine einmalige Wohnungsbauabgabe an die Stadthauptkasse zu entrichten ist.
Stadtarchiv Wernigerode - WR III 6/2